Für einen kurzen Augenblick scheinen sich unsere Blicke zu treffen. Dann bricht die unvollständige, unsichtbare Verbindung zwischen uns ab.
Wie oft hatte ich mir gewünscht, er würde mich einmal, wenn auch nur für eine kurze Weile, bewusst wahrnehmen, mich anstarren, mich anschreien, mich anlachen? Wenn er mich ansieht, dann suche ich die Emotionen in seinem Blick. Ich suche die Wärme, die im Blick meiner Mutter und meines Vaters liegt, wenn sie mir ins Gesicht sehen. Die Wärme, die in meinem Blick liegt, wenn ich ihn ansehe. Meinen Bruder.
Ich kann ihm nicht böse sein.
Es ist nicht so, dass er sich nicht mit mir austauschen will. Er kann es einfach nicht. Wenn er mich betrachtet, dann nimmt er mich als Gegenstand wahr, nicht als seinen großen Bruder, dessen Mimik und Gestik er deuten könnte. Ich bin für ihn nichts anderes als ein Schrank, ein Stuhl, ein Apfel, ein Pappkarton. Ich kann ihm nicht böse sein.
Wenn ich mit ihm spazieren gehe, dann hält er meine Hand. Und ich halte seine. Die Strecke, die wir laufen, ist immer dieselbe und die Dauer des Spaziergangs variiert nur, wenn eine Radfahrerin beschließt sich innerhalb eines Abschnittes dieser Strecke von einem Skateboard-Fahrer anfahren zu lassen und diskutierend die Straße zu blockieren.
Eine Verzögerung kann kurzweilig von ihm hingenommen und geduldet werden. Hält sie aber zu lange an, kann sie ihn aber auch in eine sehr unschöne Situation für ihn und mich bringen. Hilflos stehe ich dann da, wenn mein Bruder nervös beginnt auf- und abzulaufen, den Kopf schüttelnd, vor sich flüsternd, dass sie weiter gehen müssen, seine Uhr fest in der Hand haltend.
Schon seit Jahren liefen wir ein und dieselbe Strecke. Für mich war es nur eine x-beliebige Aneinanderreihung verschiedener Laufrichtungen, aber für ihn war es seine Strecke. Hier konnte er sich entspannen, hier wusste er, was ihn erwarten würde. Gern hätte ich ihm auch einmal meine Lieblingsorte gezeigt. Den Badesee, in dem ich das Schwimmen erlernte, die Konzerthalle, in der regelmäßig meine Band spielte, die Bar, in der ich meine Freundin kennenlernte. Er will dort nicht hin. Das hatte er mir ehrlich und aufrichtig ins Gesicht gesagt. Dann muss er es auch nicht.
Ich kann ihm nicht böse sein.
Heute ist sein 27.Geburtstag. Während meine Mutter den kleinen, aber feinen Geburtstagskuchen zurück in die Küche trägt, überreiche ich ihm stolz mein Geschenk. Während er es langsam auspackt, beobachte ich wie er in gewohnter Weise die verschiedenen Materialien der Geschenkverpackung auf verschiedenen Haufen verteilt. Als wir noch kleiner waren und uns ein Zimmer teilen mussten, hatte es mich immer genervt, wie alles in unserem Zimmer sortiert sein musste. Hatte ich eine Spielfigur in das falsche Schubfach oder einen Buntstift in den falschen Becher gesteckt, war ein lautstarker Tobsuchtsanfall meines Bruders vorprogrammiert. Wenn ich ihn jetzt beim Sortieren beobachte, bin ich tiefenentspannt und gespannt, was er von meinem Geschenk halten wird. Er hält das norwegische Wörterbuch nur kurz in der Hand, als er beginnt seinen Oberkörper nach vorn und hinten zu wippen. Unter der fortwährenden Mitteilung, dass dies das norwegische Wörterbuch sei, welches er sich von mir gewünscht hatte, verschwindet sein Gesicht in den Tiefen der ersten Seite und seine Stimme stimmt langsam ab.
Er würde wohl nicht sehr lange brauchen, sein Sprachrepertoire um eine achte Komponente zu erweitern. Wie neidisch ich doch manchmal auf ihn war. Als gäbe es nichts einfacheres, als eine neue Sprache zu lernen oder ein Buch auswendig aufsagen zu können. Ich erinnere mich noch gut an die Abende, an denen ich nicht einschlafen konnte, weil mich seine Leselampe bis in die tiefen Nachtstunden wach hielt. Damals hätte ich ihm gerne einfach das Lampenkabel durchgeschnitten, aber heute kann ich ihm nicht mehr böse sein.
Ich könnte Romane füllen, wenn ich alle meine Erlebnisse mit ihm niederschreiben würde. Doch wahrscheinlich könnte ich ihm nicht ansatzweise gerecht werden. Viel zu wenig, weiß ich eigentlich von seiner eigenen, kleinen Welt, an der er mich nicht teilhaben lassen kann. Viel zu wenig, weiß ich von dem geheimen Leben meines geliebten, autistischen Bruders.
– Maria Prüter
(3.Platz, Schreibwettbewerb SS2015)