Entkommen kann vieles bedeuten. Dem Alltag entkommen, dem Stress, vielleicht sogar der Realität. Aber was, wenn man dem Leben entkommen will?
Ich bin ja ein ziemlich großer Fan von Netflix. Die Streaming-Plattform ist meiner Meinung nach einer der besten Erfindungen, die es gibt. Als ich gerade auf der Suche nach einer neuen Serie war, stieß ich plötzlich auf „Tote Mädchen lügen nicht“. Vor etwa sechs Jahren habe ich das Buch gelesen. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie sehr mich die Geschichte damals berührt und gleichzeitig erschüttert hatte. Nun hatte Netflix also eine Serie daraus gemacht. Natürlich war ich neugierig und drückte auf „Play“.
Die Serie handelt von dem 17-jährigen High School-Schüler Clay Jensen. Eines Tages findet er vor seiner Haustür ein Paket mit Kassetten. Zuerst ist er verwirrt, aber als er die erste Kassette einlegt, will er seinen Ohren nicht trauen, als die Stimme von Hannah Baker – einer Mitschülerin ertönt. Hannah Baker, auf die er mal ein Auge geworfen hatte. Und die sich vor zwei Wochen das Leben genommen hatte. Kurz vor ihrem Tod hatte sie diese Kassetten aufgenommen, in denen sie 13 Gründe nennt, warum sie sich umgebracht hat. Clay ist einer davon.
Die Serie behandelt eine unglaublich ernste Thematik, die bei dem ein oder anderen auf Unverständnis stoßen mag. Wenn jemand aus dem Umfeld Selbstmord begeht, quält einen die große Frage des Warums. Warum hat dieser Mensch, der noch sein ganzes Leben vor sich gehabt hätte, so viele Chancen, so viele Möglichkeiten, warum hat dieser Mensch keinen anderen Ausweg gesehen, als sich das Leben zu nehmen? Neben diesem Unverständnis kommt unfassbare Trauer hinzu. Das Schlimmste jedoch sind die Schuldgefühle, die einen auffressen. Warum habe ich nicht bemerkt, dass er/sie so verzweifelt war? Mit einem Mal wird man sich gefühlt hunderttausender Signale bewusst. Er/sie hat oft über den Tod gesprochen, sich vielleicht sogar geritzt. Aber niemals hätte man auch nur in Erwägung gezogen, dass diese Person zu so etwas imstande gewesen wäre. Bis es zu spät ist. Gleichzeitig braut sich im Kopf dieser fürchterliche Gedanke zusammen. Bin ich schuld? Bin ich einer der Gründe, warum diese Person getan hat, was sie getan hat? Habe ich sie umgebracht? Genau diese Frage stellt sich auch Clay.
Die Handlung wird abwechselnd aus seiner und Hannah‘s Sicht erzählt. Clay quält sich regelrecht durch die Kassetten. Ihm fällt es schwer, ihre Stimme zu hören. Einerseits ist er wütend auf seine Mitschüler, startet grausame Racheaktionen, ist jedoch gleichzeitig selbst voller Trauer und Schuldgefühle. Sein Kumpel Tony – ein wunderbarer Charakter, wie ich finde – unterstützt ihn sehr in dieser Zeit, bringt ihn dazu, nicht aufzuhören, ist für ihn da, als Clay seine eigene, herzzerreißende Kassette anhört.
Mit fortlaufender Handlung wird die Serie immer düsterer. Hannah‘s Gründe reichen von harmlosen Schülerstreichen bis hin zu weitaus heftigeren Sachen. Das eine resultiert jedoch aus dem anderen. Wie ein Schneeball, aus dem eine Lawine wird. Hannah ist einer dieser Menschen, denen man vielleicht nicht sofort ansieht, wie schlecht es ihnen geht. Schließlich ist sie ein hübsches Mädchen, das aus einer liebevollen Familie stammt. Jedoch geht vieles in ihrem Kopf vor sich. Die oft unüberlegten Handlungen ihrer Mitschüler zerstören sie nach und nach.
Der Unterschied zum Buch ist, dass die Jugendlichen, die ebenfalls auf den Kassetten sind, sowie die Eltern viel mehr in die Handlung integriert werden. Man erfährt, wie sich diese Personen nach Hannah‘s Selbstmord fühlen und was ihre Version der Geschichte ist. Es gibt nämlich nicht nur „die eine Wahrheit“. Außerdem werden Themen wie Homosexualität, Cybermobbing und das Außenseitersein allgemein weiter beleuchtet.
Serie wie auch Buch sollen beiden Seiten die Augen öffnen. Einerseits sollten wir uns gegenseitig besser behandeln und auch mal zweimal nachdenken, bevor wir ein peinliches Foto von jemandem ins Internet stellen. Cybermobbing ist ein großes Problem der heutigen Zeit. Aber nicht nur das, auch Worte und Handlungen können einen Menschen sehr verletzen.
Auf der anderen Seite spricht die Geschichte auch Leute an, die schon Suizidgedanken hatten. Es geht nicht darum, mit dem Finger auf die Schuldigen zu zeigen. Am Ende hat Hannah die Entscheidung ganz alleine getroffen. Dabei hätte dieses Mädchen eine Zukunft gehabt. Es gab Menschen, die sie liebten und die ihr Tod im tiefsten Inneren erschüttert. Jedoch hat sie all ihre Probleme in sich hineingefressen, sich niemandem wirklich anvertraut. Deshalb ist die Message an die Menschen, denen es so ähnlich geht wie Hannah:
Wenn dir etwas auf dem Herzen liegt und du nicht glaubst, alleine damit fertig zu werden, rede mit jemandem darüber. Es gibt immer Menschen, die dich mit offenen Armen empfangen werden und bereit sind, dir zu helfen. Sie sind froh, dass es dich gibt.
Ich finde die Serie sehr gut gemacht. Selbstmord ist ein sehr ernstes, sehr sensibles Thema. Besonders gut gefällt mir , dass auch die anderen Charaktere miteinbezogen werden. Es wird gezeigt, wie schlecht es den Eltern von Hannah geht, wie die Mitschüler auf ihren Selbstmord reagieren, wie sehr die Herzen dieser Menschen von diesem Schicksal geprägt werden. Die Produzenten waren sehr darauf bedacht, nichts zu verstecken, die nackte Wahrheit zu zeigen. Es ist eine wahnsinnig tragische Geschichte, die mich sehr tief berührt hat. Ich kann die Serie auf jeden Fall empfehlen.
Julia Kerscher