Dies hier ist ein Brief an mich.

 

Hallo ich oder wer immer du bist,

ich hoffe, es geht dir gut. So gut es uns halt gehen kann. Du weißt ja, was ich meine.

Heute habe ich dich umgebracht. Dich mit all deinem Charme, deinen Fehlern. Dich und deine Naivität, deine Dummheiten, deine rücksichtslose Rücksichtnahme. Dich und die Jugend, welche ist, was du warst. Deine Gedanken, Gefühle, Probleme – alles, was du warst. Mit allen Momenten, in denen du glücklich warst. Mit all deiner Trauer und der Leere, die dich erfüllt. Mit der Gleichgültigkeit, die sich über deine Ängste legt, wenn du die Hoffnung aufgegeben hast.

 

Du bist tot.

 

Ich möchte mich entschuldigen. Ich möchte sagen, es tut mir nicht leid.

Ich laufe durch die Straßen und sitze im Zug, ich gehe mit diesem gepressten Lächeln Leuten aus dem Weg, mache Platz, stehe auf, schau mich um, meide Augenkontakt und ich hasse die Welt.

Ich hasse dich, ich hasse das, was du bist, was wir sind. Ich wünschte, ich könnte dir die Schuld geben für das, was ich bin, könnte dich tausend mal fragen, wie kannst du es nur wagen, so zu denken, wie du es tust.

 

Ich wünschte, du wärst tot und ich hätte dich vergessen.

 

Ich verstehe nicht, wo ich mich verstehen soll. Wir sind jetzt 21 Jahre alt, irgendwie bin ich erwachsen, irgendwie dann doch nur älter geworden, mit anderen Sorgen und immer noch derselben Angst vor Morgen. Übermorgen. Irgendwie hab ich noch immer nicht gelernt, wie das Leben so spielt, ich merke nur, dass es spielt, nur spielen wir nicht zusammen.

Erinnerst du dich, als du die Welt anhalten wolltest, so wie Casper es in seinen Liedern schrieb? Wie dir alles zu schnell ging und du nur einen Moment mal durchatmen wolltest. Wie das Leben zu hassen das Einzige war, was in deinem Leben Sinn ergeben hat. Ich erinnere mich.

 

Ich wünschte, du wärst da und du hättest mich nie getroffen.

 

Das Leben ist leider jetzt mein Leben. Ich sollte mir Gedanken machen, wer ich bin, wer ich werden will. Setze dir ein Ziel und überlege dann, was du dafür leisten musst. Plane deine Zeit, konzentriere dich auf‘s Wesentliche, habe Spaß und genieße deine Zeit, aber vergiss nie deine Ziele.

Alles dreht sich nur noch um Ziele und Abgaben, um Anforderungen und Leistungen. Alle sehen, wie du es machst, aber niemand sieht, wie es dir geht. Keiner fragt, wie es dir geht, es fragen nur die, die es nicht wissen wollen. – Wenn ich eines im Leben gelernt habe, ist es auf „Wie geht es dir?“ mit „Gut und dir?“ zu antworten.

 

Ich wünschte, ich wäre niemals hier gewesen.

 

Ich möchte dir von meinen Zielen erzählen und was ich mache, um diese zu erreichen.

. . .

Nun möchte ich dir sagen, dass nichts besser ist und jedes „Alles wird gut“ mindestens genauso gelogen war wie jedes meiner „Gut und dir?“. Jeden Tag stehen wir auf und nehmen uns vor, die Welt zu retten und jeden Tag kommen wir heim und haben vergessen, die Welt zu retten.

Ich wünschte, ich könnte dir sagen, ich habe vergessen, wer ich bin, wer wir sind. Wer ich sein will. Was meine gottverdammten Ziele sind und was ich gottverdammt nochmal tun werde, um diese zu erreichen.

Doch ich würde lügen, ich lüge ohnehin zu viel.

Ich hab nie rausgefunden, wer ich bin, ich habe nur gelernt, dass ich nicht mehr der bin, der du warst und du und ich, wir könnten uns nicht ähnlicher sein. Was lustig ist, denn ich weiß noch genau, wie du sagtest, wie schön es ist zu wissen, dass nichts im Leben sich verändert, außer man selbst. Leider verändert sich alles im Leben und das in Lichtgeschwindigkeit und ich? Ich brauche morgens 15 Minuten, um das Bett zu verlassen.

Ich weiß nicht, wer ich werden will, ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt jemand sein will. Ob ich überhaupt sein will.

Und meine Ziele erreichen? Ja, das könnte ich, wenn ich welche hätte.

Meistens nehme ich mir vor, das Bett zu verlassen und meistens bekomme ich das hin.

 

Ich wünschte, ich würde mir meine Lügen glauben.

 

Hallo ich oder wer auch immer du bist. Ich weiß, du weißt es, aber du lebst noch.

Nach tausenden Versuchen des Neuanfangs, nach hundertmal alles hinter sich lassen bist du immer noch hier. Du und ich und alle unsere Fehler, nur jetzt, jetzt sind wir irgendwie erwachsen. Oder auch nur älter geworden.

Jetzt hat sich nichts verändert, nur die Jugendlichkeit funktioniert nicht mehr als Ausrede.

Jetzt hat sich nichts verändert, nur verändert sich alles noch viel schneller als früher.

Jetzt hat sich nichts verändert, vor allem du hast es nicht.

 

Und verdammt, wie hätte ich dich umbringen können, ohne mich selbst zu verletzen.

Ich wollte diesen Brief nicht so schreiben, wie er jetzt ist. Ich wollte vieles nicht so, wie es jetzt ist.

Ich liebe dich und du solltest uns auch lieben, für das, was wir nicht wissen, was wir sind.

Für alle Fehler, für die Naivität. Für unsere rücksichtslose Rücksichtnahme. Für deinen Hass auf die Welt und auf das Leben. Für dein Zweifeln an dir selbst und dein Verzweifeln am Leben.

 

Ich liebe dich – mir verdammt egal, wer wir sind.

 

Luca Falzone