von Sophia

Ich will mit 99% der Menschen keinen Sex haben. Klingt plakativ, aber nur, weil Sex in unserer Gesellschaft allgegenwärtig ist. Alle scheinen ihn zu haben, wir sprechen darüber als sei es das normalste auf der Welt. Aber ich habe mich lange nicht verstanden gefühlt, da ich keine bis kaum sexuelle Anziehung gegenüber Menschen verspüre. Let me explain.

Wenn in meiner Jugendzeit meine Freundinnen über ihren Schwarm geredet haben und welchen Typen sie heiß finden, stand ich oft nur daneben, habe genickt und so getan, als könnte ich nachvollziehen, was sie an ihm finden. An diesem Typen am anderen Ende des Schulhofs, mit dem sie kaum ein Wort gewechselt haben. Wenn ich dann selbst gefragt wurde, wen ich denn so attraktiv finde, habe ich mir irgendeine Person herausgesucht, die nach den Normen der Gesellschaft als attraktiv gelten und gesagt, dies sei mein Schwarm. Das hat meinen Freund*innen gereicht, weil ich dann dazugehört habe. Aber im Inneren hat es meine Unsicherheit nur verstärkt: Bin ich seltsam, dass ich kein Bedürfnis habe, mit diesen Menschen zu schlafen? Dass ich sie zwar äußerlich hübsch finde, mich aber nicht zu ihnen hingezogen fühle? Immer wieder habe ich mich selbst hinterfragt, mir eingeredet, dass ich nur verklemmt oder den*die Richtige finden muss und dass alles noch kommt. Aber auch jetzt mit 22 hat sich nichts geändert: Ich verspüre keine Anziehung, vor allem keine sexuelle Anziehung zu wildfremden Menschen und das schließt auch Celebrities mit ein. Wenn ich mich zu jemandem hingezogen fühle, möchte ich die Person unbedingt gut kennenlernen und alles über sie wissen – das Körperliche steht im Hintergrund.

In den vergangenen Jahren habe ich versucht, mein Label zu finden, ich dachte, vielleicht stehe ich einfach nicht auf Männer, sondern auf das eigene Geschlecht. Ich meine, ich finde einige Menschen sehr ästhetisch ansprechend, aber habe kein Bedürfnis nach körperlicher Nähe oder gar Sex mit ihnen. Die Fragen von Familie und aus dem Freundeskreis, ob ich denn jetzt schon eine*n Partner*in habe, machten es nicht unbedingt einfacher und ich habe einfach immer abgeblockt – wen ihr liebt und mit wem ihr schlaft geht mich nichts an, also geht es euch bei mir auch nichts an. Vor allem, wenn ich selbst noch nicht bereit bin, darüber zu reden oder mir auch nur ansatzweise sicher bin, was los ist. Und irgendwann stieß ich im Internet auf die sexuelle Orientierung Asexualität.

Asexualität bezeichnet die fehlende sexuelle Anziehung gegenüber anderen Menschen. Das bedeutet nicht, dass kein Interesse an einer Beziehung oder teilweise auch an Sex vorhanden ist, sondern dass die sexuelle Anziehung fehlt. Genauso wie bei anderen sexuelle Orientierungen handelt es sich hierbei um ein Spektrum, manche asexuelle Personen sind sehr sex-positiv eingestellt und haben Sex ihrer*m Partner*in zuliebe, andere lehnen Sex komplett ab. Und da es sich um ein Spektrum handelt, gibt es einige Unterarten von Asexualität, darunter Demisexualität. Menschen, die demisexuell sind, verspüren erst nach einer tiefen emotionalen Bindung sexuelle Anziehung – also genau das, was bei mir der Fall ist.

Vielleicht sagt ihr jetzt: Ich habe auch nicht mit jeder Person, die ich attraktiv finde, Sex. Das mag natürlich stimmen, aber ich verspüre diese sexuelle Anziehung nur, wenn eine starke emotionale Bindung besteht, was einige Monate dauern kann und sehr viel Offenheit und sehr viele tiefe Gespräche benötigt. Bei mir heißt es also nicht „let’s talk about sex, baby“, sondern „let’s talk about your life, baby“. Obwohl ich gerne flirte, bin ich sofort raus, sobald es in eine eindeutig sexuelle Richtung geht und ich die Person nicht gut kenne. Und das hat mich lange verzweifeln lassen.

Seit ich den Begriff Demisexualität kenne, fühle ich mich besser – Sexualität ist wandelbar, sie ist meist eine Momentaufnahme und wenn irgendwann ein anderes Label oder ein anderer Begriff besser passt, then go for it. Aber mir hilft der Begriff, weil ich mich nicht mehr so allein, nicht mehr so seltsam fühle. Vor allem als Jugendliche hätte mir mehr asexuelle Repräsentation in Büchern oder Filmen geholfen zu sehen, dass ich total normal bin und mit meiner fehlenden sexuellen Anziehung nichts falsch ist. Wichtig ist außerdem, dass dies nur meine Erfahrungen sind, andere Personen auf dem asexuellen Spektrum haben andere Erfahrungen oder denken anders über bestimmte Dinge.

Obwohl die ganze Gesellschaft mir suggeriert, dass ich Sex haben will, weil er überall in Serien, Filmen, Büchern und sogar in der Werbung allgegenwärtig ist: Ich will mit den meisten Menschen keinen Sex haben, Ende der Diskussion. Und das ist auch gut so.

Weitere Informationen über Asexualität:
The Asexual Visibility and Education Network (AVEN) https://www.asexuality.org/
Alice Oseman – Loveless (Jugendroman, Protagonistin ist aromantisch und asexuell)