von Jakob Hertl
Neulich erst habe ich das hübsche Werbeplakat der S-Bahn Stuttgart gesehen: „In voller Fahrt auf dem neuesten Stand“. Vor Lachen ist mir beinahe der Yorma’s-Kaffee aus der Hand gefallen, den ich mir zur Überbrückung einer weiteren Zug-Verspätungs-Pause geholt hatte. Denn selten habe ich ein Plakat gesehen, auf dem wirklich jedes einzelne Wort so offensichtlich so weit weg von der Realität war.
Ich bin kein regelmäßiger Gast von Fernverkehr-Zügen der Deutschen Bahn. Aber dafür von U- und S-Bahn. Die Eskapaden, die ich dabei schon erlebt habe, die vielen Stunden meines Lebens, die ich in stickigen SEV-Bussen meine Lebensentscheidungen überdacht habe und die unendliche Leere in den Gesichtern von so vielen gestrandeten Seelen, die ich schon am Stuttgarter Hauptbahnhof beobachtet habe – all das hat mich veranlasst, diesen Text über den ganz normalen Bahnsinn zu schreiben.
Ich will gar nicht wissen, wie viele Überwachungskamera-Aufnahmen es von mir mit erhobenem Mittelfinger in der S-Bahn gibt. Wer heutzutage noch in blinder Zuversicht am Vorabend den folgenden Tag planen möchte, wer nicht mindestens zwei Stunden früher aufsteht, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein – der nimmt wohl die richtigen Drogen. Denn egal wie früh wir uns über mögliche Zugausfälle in der DB-App informieren: ein „Betriebsbedingter Personalausfall“, „Außerplanmäßige Gleisarbeiten“ oder „Technische Störungen“ schaffen es immer wieder, uns doch einen Strich durch die Rechnung zu machen. Wie sagt man so schön: verläuft dein Leben stets nach Plan, fährst du selten Deutsche Bahn.
Wenn alle Gebete erhört wurden und man es schafft, sich zu den anderen genervten Fahrgästen in den letzten, übriggebliebenen, funktionstüchtigen Wagon zu quetschen, der fährt, dann lacht einen im Eingangsbereich direkt der nette Aufkleber „Fragen, Anregungen, Kritik“ an. Mit meiner unbremsbaren Wut habe ich einmal versucht, die hinterlegte Nummer anzurufen. Vergebens. Niemand hob ab – vermutlich ist das zuständige Servicepersonal kurzfristig ausgefallen.
Und doch: wäre die Deutsche Bahn nicht da, würde ich sie trotzdem irgendwie vermissen. Erstmals realisiert habe ich das vor zwei Jahren, als ich für ein halbes Jahr in Syracuse im Nordosten der USA gelebt habe. „Öffentlicher Nahverkehr“ ist in den Staaten – abgesehen von den großen Metropolen – nämlich ein Fremdwort. Ein spärliches Netz von gefühlt drei klapprigen Bussen war in Syracuse das höchste der Gefühle. Wenn man dort kein Auto hat und die einzige Möglichkeit, abends heimzukommen ein 45 Minuten-Fußmarsch oder eine 17$-Uber-Fahrt ist, wünscht man sich ganz schnell die S-Bahn zurück. Vielleicht verspätet, vielleicht mit Ausfällen, aber immerhin überhaupt existent.
In Deutschland ist der Umgang mit den Bahn-Abenteuern schlicht eine Frage der Herangehensweise. Klar kann man sich jedes Mal aufs Neue darüber aufregen. Man kann aber auch sein Schicksal akzeptieren. Es mit Humor nehmen und beispielsweise eine Runde Verspätungsgrund-Bingo spielen. Man kann anfangen, die kleinen Lichtblicke wahrzunehmen.
Etwa das unerschütterliche Gemeinschaftsgefühl, dass man mit allen Mitleidenden teilt. Das misstrauische Glücksgefühl, wenn auf wundersame Weise doch mal alles so fährt, wie angekündigt. Die vielen unscheinbaren Ecken, die man planmäßig nie sehen würde, müsste man sich nicht eine Alternativ-Strecke mit doppelt so vielen Umstiegen aus dem Ärmel zaubern. Die viele Zeit zum Nachdenken, ganz ohne Ablenkung, im stehengebliebenen Zug irgendwo im Nirgendwo.
Pausen entschleunigen das Leben und aktuell sind doch alle so scharf auf Entschleunigung im Leben. Warum dann nicht mal kurz innehalten und dankbar sein, dass das Leben so herrlich unberechenbar ist? Warum nicht die Wartezeit am Bahnsteig als Geschenk sehen, als einzige Möglichkeit unserem sonst so durchgetakteten und vollgeplanten Leben für einen Moment zu entkommen?
Ja, es klingt albern und so, als könnte es nur jemand schreiben, der nicht regelmäßig Bahn fährt. Aber glaubt mir, als jemand, der am Bahnhof schon von ganz vielen Nervenzellen Abschied genommen hat: es ist es nicht wert. Bahn fahren kann ätzend sein, aber würde die Bahn plötzlich immer pünktlich und zuverlässig fahren, würden wir uns eben über etwas anderes aufregen. Auch wenn die ganze Institution manchmal ein einziger Saftladen ist:
Hach, Deutsche Bahn, I love you anyways.
Illustration: Jakob Hertl